Verfasser: Klaus Lehmann, Museumsleiter
Die ersten Bewohner von „drüben“, aus den Elbdörfern Kaarßen und Tripkau, kommen bereits am 10. November über Horst/Lauenburg nach Hitzacker. Endlich einmal den Blick vom Weinberg auf „ihre“ Seite werfen, war der Wunsch. In Wussegel, im Restaurant Elbterrassen, finden sie per Zufall einen Ansprechpartner für ihren Traum: wieder eine Fährverbindung zwischen den beiden Seiten der Elbe. Der Schiffsbesitzer Michael Breese sitzt am Nebentisch, hört das mit und verspricht ihnen, sich dafür sogleich einzusetzen. Flugblätter werden am nächsten Tag verfasst, abgezogen und drüben verteilt. Sie sollen kräftig Mut machen für eine Fährverbindung, wie sie schon vor dem Krieg bestand: zwischen Hitzacker und Herrenhof-Bitter.
Noch blieb es an der Elbgrenze zwischen dem 10. und 16. November aber ruhig. Erst am 17. November kommt Bewegung in die Sache: Vertreter des Niedersächsischen Ministeriums für Wirtschaft und Verkehr, der Bezirksregierung Lüneburg, des Landkreises Lüchow-Dannenberg, der Stadt und der Samtgemeinde Hitzacker, Beamte des Zollkommissariats von Hitzacker und der Schiffsbesitzer Michal Breese einigen sich und schaffen die gesetzlichen Voraussetzungen, um sofort mit einem Fährbetrieb zu starten. Hannover ist bereit, die Kosten zu übernehmen, Michael Breese trägt das unternehmerische Risiko. Den DDR- Behörden signalisieren sie, hier sei alles startklar.
Am 17. November warten nur wenige Menschen vor dem doppelflügigen Tor beim Grenzturm. Am Westufer blicken die Hitzackeraner gespannt auf die längst vertrauten Grenzanlagen, ob sich etwas tut. Radio Niedersachsen spricht von einer Fährverbindung, das schürt Hoffnung.
Am 18. November erklingt Musik vom gegenüberliegenden Ufer in Hitzacker. Bereits ab 7.00 Uhr an diesem Samstag spielt die Kaarßener Blaskapelle am Zaun ihre Melodien, dahinter stehen hunderte DDR-Bürger, in der Hoffnung, das Tor öffne sich. In Hitzacker drängen immer mehr Menschen ans Elbufer, darunter Schulklassen mit ihren Lehrkräften. Alle sind voller Aufregung, ob etwas geschieht. Das Zollboot kreuzt auf der Elbe, über Megaphon tauschen sich der hiesige Zolloberinspektor Scheele mit dem zuständigen DDR-Kommandanten Rakow aus. Michael Breese fährt mit dem Fährschiff „Drawehn“ auf und ab. Alle Augenblicke lässt er das Schiffshorn ertönen, Ansporn, nur nicht nach zu lassen. Aber nichts weiter geschieht an diesem Tag.
Am Sonntag, dem 19. November ist es so weit. Bereits am Vormittag versammeln sich wiederum hunderte DDR-Bürger, gemeinsam mit der Blaskapelle Kaarßen, am Tor. Sie warten, dass das Tor sich endlich öffnet. Und auch am Westufer strömen wieder Menschen zur Elbe, in der Hoffnung, heute muss doch die Grenze endlich fallen. Heute muss es wieder eine Verbindung über die Elbe geben!
Um 11.45 Uhr fordert DDR-Hauptmann Rakow das Zollkommissariat zur Kontaktaufnahme am Elbkilometer 523 auf. Noch habe er keinen Befehl erhalten, aber der Druck am Tor würde immer unberechenbarer. Jetzt geht alles ganz schnell. Kurzerhand werden Bedingungen aufgestellt: nach Hitzacker ja, aber niemand von Hitzacker in die DDR. Das Zollboot und Leute vom DDR Wasserbau begleiten die erste Fährfahrt.
Da geht um12.15 Uhr das Tor auf, jemand hat plötzlich den Schlüssel. Er wird später mit der Kette zusammen im Gras gefunden und ist heute im Museum Hitzacker (Elbe) ein seltenes Erinnerungsstück deutsch-deutscher Geschichte. Die Menschen strömen, vorweg die Blaskapelle, zum Ufer. Um 12.43 Uhr gehen die ersten Bürger der DDR in Hitzacker an Land. Günter Hillwig, ein Zeitzeuge von damals, schrieb: „Die Menschen umarmen sich erschüttert und glücklich. Tränen der Freude fließen und die Hoffnung keimt auf, dass aus zwei Hälften wieder ein Ganzes werden könnte.“